Farman
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Mich juckts aus heiterem Himmel mitten in der Nacht, was über diesen Film zu texten...
Hab ich neulich noch ein neues Mal gesehen und mir ein irgendwann zu fertigendes kleines Essay vorgeplant, doch nach dem kurzzeitigen Setzen der Eindrücke muss was raus, sonst wirds nachher schwierig. Für andere Plattformen im Netz ist wildes, spontanes Ruminterpretieren schlichtweg zu schade, warum nicht die glorreiche Reinkarnation des schönsten Forums der Welt versuchen zu bereichern?

Diese intensive, intime Lebenserfahrung von einem Film ist definitiv bisher der Streifen des neuen Jahrtausends. Keine Frage oder Widerspruch. Mir wachsen jedesmal aufs Neue Haare auf den Zähnen, wenn man den Film in einem Atemzug mit Memento, Donnie Darko, Usual Suspects oder auch Oldboy erwähnt, Filme mit überraschendem Ende und fordernder Erzählstruktur. Die sind allesamt nicht schlecht, im Vergleich zum geläufigen Mainstreammüll vielleicht sogar großartig, bleiben aber im Vergleich zu Mulholland Drive imo Spielerei, wenn auch besonders intensive (Olboy) oder besonders schöne (Donnie Darko). Mulholland Drive aber ist der eine Film von ihnen, von dem man in hundert Jahren noch sprechen wird, da er dieses Medium schlichtweg in eine neue Stufe der Entwicklung bringt. Ein Portal in eine andere Welt, pathetisch augedrückt, das Portal in unsere eigene Welt, etwas wahrheitsgemäßer ausgedrückt.

WIE nur soll ich meine Eindrücke in einen auch nur annähernd kompakten und treffenden sprachlichen Rahmen zwängen? Je mehr dieser Film auf einen wirkt, desto mehr will hervorkommen, aber desto sprachloser bleibt man. Beim fadenscheinigen "Analysieren"  glotzt man plötzlich irgendwann ähnlich ratlos daher wie damals beim Vortrag des übelriechenden Deutschlehrers über den Faust in der Schule: Man fragt sich, ob es denn in Gottes Namen irgendwas auf der Welt gibt, von dem dieses Werk NICHT handelt?
Ich versuch dem Wirrwarr nicht mit so langweiligen Attrappen für Spießer wie einer "Struktur" gerecht zu werden, sondern tue das, was ich in diesen Fällen am liebsten mache: Freestylen. Einfach drauf los, die mögliche Absurdität meiner Gedanken zu einem offenen Schlagabtausch auffordern.
Na dann, let's get ready to rumble...

Vorab: Die unzähligen Interpretationen, die im Netz kursieren, hab ich größtenteils nicht gelesen und sie werden mir auch recht lange relativ egal bleiben. Wen juckt ne Komplettlösung für ein komplett nicht-lineares Videospiel? Was man für ein solches Spiel braucht, ist eher ein Gefühl für die Mechanismen und Funktionsweisen, die seinem Leveldesign und der Architektur seines Universums zugrunde liegen. Man will forschen, man will nicht geradeaus durchlaufen. Jeder erforschte Mikrokosmos ist eigenständig, und das nicht-lineare Spiel ist die Summe nebeneinander existierender Mikrokosmen, die durch die für uns unergründliche Natur der Kontinuität menschlicher Wahrnehmung und Erfahrung ein "Ganzes" ergeben, aber ohne uns genau erfahren zu lassen, was das Bindende ist. Unser Hirn sucht ein Leben lang nach einem Zusammenhang, den unsere Gefühlswelt schon lange bewiesen hat. Eine Kontinuität zeichnet folglich ausschließlich unser Unterbewusstsein aus, unser aktives, bewusstes Verwerten von Erfahrung und Wahrnehmung ist von Diskontinuität und Brüchigkeit bestimmt.
Kein Leveldesign obliegt einer logischen Begründung. Wie kann irgendeine Vernunft unseren Drang erklären, einer von Fremden gestalteten Fährte folgen zu wollen? Die Levels obliegen naturwissenschaftlichen Gesetzen, logischer Struktur und handfesten Anliegen, alles abgekartert und durchkomponiert, um durch uns Geld zu machen. Doch worin besteht die Logik unserer Reaktion auf dieses durchkomponierte Design, der Reaktion auf unsere Reaktion und der letztlich bleibenden Frage, warum uns das so einen Spaß macht, in „fremde“ Welten einzutauchen, an denen nichts fremd sein sollte? Sind ja schließlich nur Bits und Bytes.

Wenn David Lynch in Interviews über seine Ideen spricht, mit dieser einzigartigen Geste des Fingerwedelns (als würde er auf einem imaginären Klavier spielen), benutzt er eine sehr liebevolle, verständliche Metapher: Ideen sind wie Fische. Je tiefer man mit seiner Angelrute eintaucht und je mehr Zeit man sich lässt, desto größere kriegt man. Und ähnlich wie bei Godard oder Hitchcock sind seine Filme nicht bloß die Umsetzung einer oder mehrerer hipper Ideen, sondern handeln vom Ideenfinden selbst, ein ständiges Spiel mit Traum- und Metaebenen, das das Überschreiten seiner eigenen Grenzen zum Thema hat. Ein unschuldiger wie erbarmungsloser Blick in die Tiefe des Teichs.

Mulholland Drive ist einer der bislang schönsten, traurigsten, intensivsten, extremsten Blicke in die Tiefe des Teichs, die das Kino je zu bieten hatte. Einer der wenigen Filme, die einen zu einem neuen Menschen machen können.
Wo setze ich an, worum geht es? Bleiben wir mal beim Leveldesign. Der Vorwurf, das „Leveldesign“ von „Mulholland Drive“ sei absichtlich irritierend und Lynch ein Sadist, der irgendwann mit seinem Labyrinthfetisch bloß noch nervt, ziemlich alt. Viele diskreditieren „Mulholland Drive“ auf diese Weise indirekt als im Grunde hohlen postmodernen Trash. Treffender wäre die Aussage, dass Lynch uns selbst zu Leveldesignern macht. Klingt verdammt plump, für mich ist’s die Wahrheit. Das ist nicht gleichzusetzen mit einem leeren, komplett weißen, noch unprogrammierten Raum wie in der Szene in Matrix, wo man alles, was das Herz begehrt, hineinprogrammieren kann. Dann könnte man jeden hohlen Film als Meisterwerk abstempeln. Es geht vielmehr um das Gefühl von Schwerelosigkeit,  wenn man nicht zu einer speziellen Entscheidung gezwungen wird, wie in einem weitläufigen Level, in dem jede Burg und jeder Wasserfall gleich verführerisch aussieht und man automatisch in den Konflikt zwischen der Lust zu erkunden und dem Willen zu entscheiden gerät. Man wird ein wenig sein eigener Herr.

Und genau da liegt das Problem. Wird man von der Leine des Leveldesigners entbunden und steht auf eigenen Füßen, lernt man sich kennen, und oft gefällt einem nicht, was man plötzlich kennen lernt. Hier kommen wir zum bereits erwähnten Faust von Goethe, den viele mit Lynch in Verbindung bringen. Mephisto, der Teil von jener Kraft, die stets das Böse will und stets das Gute schafft,  als Verkörperung von Fausts inneren Umtrieben und seinen düsteren Neigungen, ist der-/dasjenige, das ihn zum Menschen macht. Er unterjocht ihn nicht, er zieht ihn zum Bösen, indem er ihm einen Haufen von imposantem Schauspiel und die Freiheit schenkt, es zu interpretieren.
Mulholland Drive ist voll von solch mephistophelischen Figuren. Coco Lenoix, eine mütterliche, liebenswürdige, gruselig aussehende Figur, die Betty ein Glamourparadies mitten in Hollywood zur Verfügung stellt mit einer verführerischen Femme Fatale drinnen im Bad. Auf einer über- oder (wer weiß?) untergeordneten Traumebene erfahren wir später, dass sie die Mutter desjenigen ist, der ihr die Femme Fatale ausspannt und sie durch Eifersucht zum Bösen zieht. Der bärtige spanisch sprechende Laudator im „Club Silencio“, der durch gefälschten Gesang echte Tränen auslöst, der Wächter über die Femme Fatale, die so tut, als würde sie dieses wunderschöne „Llorando“-Lied singen und das lesbische Liebespaar in bittere Melancholie stößt, dessen abschließender Schock die Erkenntnis in Form des blauen Schlüssels für die Blue Box zur Folge hat, die den Traum in einen Alptraum verwandelt. Und nicht zuletzt der gruselige Obdachlose hinter dem Winkies: Mephisto, der innere Schweinehund, das Unterbewusstsein, das andere Ich, ist offensichtlich richtig hässlich geworden, hat sein wahres Gesicht offenbart. Die Szene mit den zwei Männern im Winkies ist eine Parabel in Form eines vorahnenden Traums innerhalb von Dianes Traum, dass den bereits determinierten Wechsel zum Alptraum verdeutlicht. Die zwei Männer sind höchstwahrscheinlich ein Schwulenpaar, das „Gleichnis“ des Lesbenpaars. „I hope I never see that face outside of a dream“, Dianes Unterbewusstsein, ihr anderes Ich, ist Teil des Alptraums, der sich vor ihrem Selbstmord abspielte, dem sie in ihrem Traum (das Straßenschild „Sunset Boulevard“ könnte man als Hinweis darauf sehen, dass Diane hier ähnlich wie William Holden in selbigem Film bereits tot ist und erzählt, doch solche klaren Hinweise gibt es bei Lynch nicht) zu fliehen versucht. Der hinter dem Winkies am durch den Schock ausgelösten Herzinfarkt sterbende Mann ist das Gleichnis Dianes, die Camilla (in Form des anderen Mannes) vor ihrem „anderen Ich“, Mephisto, warnt, der nur in ihrem Kopf existiert (der andere Mann sieht das Ungeheuer nicht), der sie selbst ist.

Es ist relativ ersichtlich, dass „Blue Velvet“ Lynchs Version von Hitchcocks „Rear Window“ war und „Lost Highway“ Lynchs Version von Hitchocks „Vertigo“, beides lose Remakes. Und auch „Mulholland Drive“ kann man ohne Hitchcock zwar verstehen, aber nicht so gut interpretieren. Die zwei sind wie zwei Thesen, die sich gegenseitig beweisen: Wenn ich Hitchcock sehe, verstehe ich Lynch besser, wenn ich Lynch sehe, verstehe ich Hitchcock besser. Bei „Vertigo“ war Gavin Elster derjenige, der einen Film im Film inszenierte mit Madeleine Elster als Femme Fatale. Und Vertigo war wohl der Pionier der Möbiusband-Struktur von Lynchs „Lost Highway“ und „Mulholland Drive“. Als der mephistophelische Gavin Elster Sachen sagte wie „She’s somewhere else“ , „Someone I didn’t know“, „Then she’s no longer my wife“, konnte man das, wie es jeder zusammen mit Jimmy Stewart getan hat, als den Beginn einer Mysterygeschichte interpretieren, aber man kann das auch interpretieren als Hinweis auf eine Realität hinter dieser Geschichte, und zwar, dass es in Gavin und (der echten) Madeleine Elsters Beziehung nicht mehr richtig läuft und er sie loswerden will. Ein kontinuierliches Wechselverhältnis zwischen den zwei Handlungsteilen (Film im Film <=> Film) lässt keine Hierarchie der Wahrheiten zu, genau so ist es in Mulholland Drive. Auch er wirkt bisweilen wie ein Vertigo-Remake, ist aber unter den Vielen das erste, das voll und ganz neben dem Original bestehen kann.
Die Sex-Szene zwischen den zwei heißen Ladys ist –und das ist so unglaublich, dass man das als Kerl sagen kann- eine der abgründigsten, bewegendsten, und wunderschönsten Szenen der Filmgeschichte. Diesen Film ohne seine Lesbenthematik in Betracht zu ziehen ist ebenso unmöglich, wie „Brokeback Mountain“ ohne seine Schwulenthematik. In einer Zeit, wo Lesben entweder als Mannsweiber oder als Wichsvorlagen in der Disco und in Hip-Hop Clips vorkommen, in „Mulholland Drive“ eine der ergreifendsten und traurigsten Liebesgeschichten aller Zeiten mit einem lesbischen Paar im Vordergrund zu sehen, beweist, dass Lynch einer der größten Humanisten des Kinos ist. Die Liebesszene ist ein Quasi-Zitat aus Vertigo, der Szene, die Hitchcock als „nekrophil“ bezeichnete: Scottie gestaltet sich eine bereits tote Frau, macht Judy zu Madeleine, ebenso wie Diane in ihrem Traum Camilla zu Rita (Rita Hayworth ist ebenfalls tot) macht, zähmt die schwarzhaarige anschließend mit einer blonden Perücke.

Der Übergang zum Alptraum ist deswegen mit jedem Sehen aufs Neue nochmal viel unerträglicher, weil Lynch vorangegangene naive Träume nie denunziert. Das ist so unglaublich an ihm. In der schönsten Einstellung steckt Mord und Totschlag, in der grausamsten steckt Mitgefühl, genau wie bei Hitchcock. Und nicht zuletzt ist er der vielleicht größte Feminist Hollywoods. Naomi Watts als Betty, eine der liebenswürdigsten Frauenrollen überhaupt, mit ihrer Rolle als Diane entgegenzustellen, die in der nicht ertragbaren Masturbierszene soviel Mut hat, so verletzt und verwundet auszusehen, ist ein Mut, den zu wenige anerkennen.

Mulholland Drive ist eine nicht in Worte zu fassende Ansammlung von Mikrokosmen, die nicht von sich behaupten, Sinn zu machen, sondern nach ihrem Sinn fragen. Wer „Rear Window“ gesehen und verstanden hat, weiß: Man sollte nicht versuchen, die Symbolkraft oder Bedeutung eines Mikrokosmos als eine Insel zu verstehen, sondern sich über seinen eigenen Bezug zu ihnen bewusst werden.
Ich könnte noch fünfzig Seiten über die unzähligen kleinen Szenen und Hinweise schreiben, aber das wär wohl ne Nummer zu viel.

(Diese Nachricht wurde von Farman am 03.11.2007 06:05 editiert.)

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Ich vermag natürlich besser zu dichten, als wie's hier geschieht. Ich spare mich für später auf.
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